„Mit den Rezepten aus der Vergangenheit werden wir die neuen Herausforderungen nicht vollumfänglich lösen können.“

Seit dem 17. Mai 2016 ist er der neue Bundeskanzler Österreichs. Kaum im Amt, haben wir unseren Bundesparteivorsitzenden Christian Kern zum Interview getroffen.

JG WIEN: Du hast in den letzten Wochen die Notwendigkeit eines neuen Stils insbesondere in der Regierungszusammenarbeit vorgegeben und eingefordert. Wie kann aus deiner Sicht ein gemeinsames Regieren mit der ÖVP auf Augenhöhe funktionieren ohne zentrale sozialdemokratische Anliegen zu sehr aufzuweichen?

CHRISTIAN KERN: Das Wichtigste ist eine konstruktive Diskussionsbasis. Es macht keinen Sinn, seinem Gegenüber keinen Millimeter Erfolg zu gönnen, vor allem, wenn gut ausgearbeitete Ideen präsentiert werden, die zum Wohle unseres Landes beitragen würden. Wir werden auf jeden Fall unsere Hand ausstrecken, insbesondere gegenüber dem Koalitionspartner, aber auch gegenüber allen anderen Parteien, um hier Projekte und Maßnahmen umzusetzen. Denn es mangelt ja nicht an guten Vorschlägen in diesem Land, sondern an deren Umsetzung. Trotzdem muss klar sein, dass die heutigen Herausforderungen, denen sich Österreich stellen muss, nach sozialdemokratischen Antworten rufen. Dementsprechend werden wir auch an unseren Grundsätzen festhalten und sie noch stärker herausarbeiten.

JG WIEN: Eine der wohl grundlegendsten Entscheidungen der kommenden Monate und Jahre betrifft die geplanten Freihandelsabkommen CETA und TTIP. Wir haben als SPÖ unsere ablehnende Haltung dazu auf den verschiedensten Ebenen beschlossen. Bleibt es dabei?

CHRISTIAN KERN: Bevor man sich für oder gegen diese Abkommen positioniert, muss man sich dessen bewusst sein, dass ein Viertel unserer Arbeitsplätze am Export hängt und Amerika unser drittwichtigster Handelspartner ist. Das heißt: Jeder, der gegen offene Handelssysteme ist, reduziert den Lebensstandard, die Beschäftigungschancen, das Wachstum. Denn wir können in einer internationalisierten Welt nicht allein reüssieren. Klar ist aber auch: TTIP, wie es heute vorliegt, ist kein Abkommen, das wir beschließen würden.

JG WIEN: Wir bekennen uns zu den Prinzipien Menschlichkeit und Ordnung in der Flüchtlingspolitik. Eine Obergrenze steht dem diametral entgegen. Wie stellen wir sicher, dass auch der/die 37.501. einen Asylantrag in Österreich stellen kann?

CHRISTIAN KERN: Es ist eine entscheidende Frage, wie viele Menschen wir bei uns aufnehmen können. Dieser Frage müssen wir mit Menschlichkeit und Humanität begegnen. Gleichzeitig müssen wir das Bedürfnis der Bevölkerung nach subjektiver Sicherheit ernst nehmen. Von entscheidender Bedeutung ist daher der Faktor Integration. Wir tragen die Verantwortung für die Menschen, die bereits da sind. Wir müssen ihnen eine Perspektive bieten und wir sind gut beraten, mit der Integration so früh wie möglich zu beginnen. Wenn die Integration gut funktioniert, wird auch der 37.501. Platz in unserem Land finden. Klar ist aber, dass wir so eine große Anzahl an Flüchtlingen wie im vergangenen Jahr nicht mehr bewältigen können. Asyl, Integration und Sicherheit ist eines der fünf Schwerpunktthemen, die wir uns vorgenommen haben. Für mich ist aber auch klar, dass Österreich die Flüchtlingssituation nicht alleine lösen kann. Hier ist europäische Solidarität gefordert, da müssen wir auch Geld in die Hand nehmen und beispielsweise in funktionierende Hotspots und in die Regionen vor Ort investieren.

JG WIEN: Die Sozialdemokratie steckt in weiten Teilen Europas wie auch international in einer Krise. Hast du Ideen, wie wir die internationale Zusammenarbeit mit unseren Schwesterparteien zum Wohle der Menschen, die wir vertreten, wieder stärken können?

CHRISTIAN KERN: Wir sind heute fest im europäischen und internationalen Kontext eingebunden. Dieses Eingebunden sein aktiv zu gestalten, indem wir die Vernetzung mit unseren Schwesterparteien – aber auch anderen Parteien und Interessensvertretungen – auf bilateraler und auf supranationaler Ebene forcieren, ist sicher einer der Schwerpunkte meiner Arbeit. Das betrifft gerade auch sozialdemokratische Kernthemen wie Beschäftigung und den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit oder soziale Fragestellungen. Wir setzen hier nationale Maßnahmen, werden aber auch gut beraten sein, über die Grenzen hinauszuschauen und unsere Aktivitäten miteinander zu verzahnen. Vor kurzem habe ich den Präsidenten des EU-Parlaments Martin Schulz getroffen, um genau diese Fragen und unsere Kooperation auf Ebene der europäischen Sozialdemokratie abzustecken. Gemeinsam schaffen wir das, was auf nationaler Ebene allein nicht machbar ist.

JG WIEN: Im Zusammenhang mit der hohen Arbeitslosigkeit und der stockenden Wirtschaft hast du nach FDRs Vorbild einen New Deal angekündigt. Kannst du uns dazu schon ein paar Eckpunkte schildern?

CHRISTIAN KERN: Um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, müssen wir kurzfristige und mittelfristige Maßnahmen setzen. Dazu gehören öffentliche Investitionen – etwa in den Wohnbau, was sich auch positiv auf die Mietentwicklung auswirken würde –, aber auch das Ankurbeln von privaten Investitionen. Wir brauchen hier mehr Zuversicht, es geht auch darum, die Nachfrage zu stärken. Erste Maßnahmen werden wir noch im Sommer präsentieren. Mittelfristig wird es darum gehen, Wirtschaft und Gesellschaft neu zu gestalten. Digitalisierung und Globalisierung stellen vieles in Frage. Was genau ist Erwerbsarbeit? Wie wird Arbeit in Zukunft verteilt? Innovation und Forschung müssen mehr in den Fokus rücken. Drei Prozent des BIP ist eine gute Forschungsquote, aber da geht noch mehr. Vor allem im Bereich der Grundlagenforschung. Davon profitiert die Wirtschaft, besonders auch der Sektor der Start-ups, auf den ich große Hoffnungen setze. Auch die Einkommensverteilung ist ein großes Thema. Die Menschen brauchen Jobs, von denen sie leben können.

JG WIEN: Wir arbeiten seit fast zwei Jahren an einem neuen Parteiprogramm und an einer Organisationsreform. Wie geht es damit weiter?

CHRISTIAN KERN: Wir haben mit der Programm- und Organisationsreform den größten Reformprozess seit 1945 laufen. Ein, wie ich finde, überaus wichtiger Prozess der Öffnung und der umfassenden Modernisierung, aber vor allem auch der Schärfung unserer Grundsätze. Für das Parteiprogramm liegt jetzt ein erster Entwurf vor. Hier wünsche ich mir eine deutlichere und progressivere Handschrift, die nicht in Kompromissen, sondern in Grundsätzen denkt. Mit Klarheit und Unverwechselbarkeit werden wir jene Menschen ansprechen und zurückgewinnen, die sich zuletzt abgewendet haben. Ich möchte, dass wir der SPÖ das Selbstbewusstsein zurückgeben, das sich aus der tiefen Überzeugung speist, dass wir immer auf der richtigen Seite gestanden sind und die richtigen Antworten auf die Problemstellungen unserer Zeit haben. Eines ist dabei klar: Mit den Rezepten aus der Vergangenheit werden wir die neuen Herausforderungen nicht vollumfänglich lösen können.

Kern auf Besuch in der Löwelstraße - Foto: Markus Sibrawa
Kern auf Besuch in der Löwelstraße

JG WIEN: Du warst ja beim VSStÖ als auch bei der JG aktiv, was hat dich in deiner Jugendorganisationszeit am meisten geprägt?

CHRISTIAN KERN: Was mich stark geprägt hat, ist die Erfahrung des gemeinsamen Engagements für ein Ziel. Die Erfahrung, etwas gemeinsam gestalten und zum Besseren verändern zu können – mit Leidenschaft und Begeisterung für dieselbe Sache. Ich habe mich schon früh sozial engagiert – während meiner Schulzeit als Schul- und Klassensprecher, später beim VSStÖ und in der JG. Das war eine spannende Zeit, in der ich auch gelernt habe, verschiedenste Interessen unter einen Hut zu bringen. Mir waren klare Ziele immer wichtig. Mindestens genauso wichtig ist aber die Fähigkeit des Zuhörens und der Offenheit für alle Meinungen, aus denen man dann gemeinsam die richtigen Maßnahmen ableitet.

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